„Dicht. Aufzeichnungen einer Tagediebin“ ist Stefanie Sargnagels erster Langtext. Zuvor waren es Kurzmeldungen, die in tagebuchähnlichen Formen veröffentlicht wurden. „Dicht“ zeichnet das Heranwachsen eines jungen Mädchens in Wien nach. Der autobiographisch inspirierte Roman erzählt in gekonnt lakonischer Weise von skurrilen Figuren, absurden und urkomischen Begegnungen, exzessiven und weniger exzessiven Erfahrungen, tiefen Freundschaften, zaghafter Liebe und Depressionen. Und das alles mitten in Wien. Achtung: falls du das Buch noch nicht gelesen hast, das aber noch vorhast, lass diesen Artikel lieber aus, um Spoiler zu vermeiden!

 

Türkenschanzpark

Alles beginnt als Sarah aus Zürich nach Wien zieht, und sie und Sargnagel sich in derselben Klasse des spießigen Gymnasiums im 18. Wiener Gemeindebezirk wiederfinden. Als wohl einziges Arbeiterkind erkennt die junge Ich-Erzählerin Steffi schon früh, dass in dem konservativen Schulgebäude Milieuwelten aufeinanderprallen. Die gemeinsame Feindin und Mitschülerin Nicole bringt Sarah und die junge Ich-Erzählerin zusammen. So kommen die drei etwa 15-jährigen Mädchen nachmittags im Türkenschanzpark in Währing zusammen. Als Nicoles Gras weggekifft ist und besagte Feindin und Pferdeliebhaberin wieder in ihre Villa verschwindet, bleiben Sarah und Sargnagel zurück.

Eine intellektuelle tiefe Freundschaft beginnt, gemeinsam diskutieren sie über das schrecklich autoritäre Schulsystem, malen, planen die Weltrevolution und die Abschaffung des Kapitalismus. Der ein oder andere Joint wird geraucht und das ein oder andere Eristoff Ice getrunken. Von da an verfolgen sie auch eine „Allen-gehört-Alles-Politik“. Das wenige Geld, das sie zur Verfügung haben, wird in einen Topf geworfen und zur Besorgung alltäglicher Genussmittel verwendet.

 

Votivwiese

Wahrscheinlich wird der Türkenschanzpark als Treffpunkt, wegen seines gutbürgerlichen Erscheinungsbilds zunehmend abgelehnt, sodass sich die Jugendlichen auf der Votivwiese ausbreiten. Die zentrale Wiese vor der gotischen Kirche befindet sich in der Nähe der Universität Wien. Dort kommen Studierende, Intellektuelle und Kunstschaffende aus Afrika und Südostasien zusammen. Ausgelassen wird geplaudert, Zigaretten und Bier geteilt, Kinder spielen in der Mitte der illustren Kreise.

Stark kontrastiert werden die entspannten Gespräche und der interkulturelle Austausch durch sexuelle Übergriffigkeiten und Alltagsrassismus. Wenn „Kiberer“ auf der Votivwiese auftauchen, steuern sie zielstrebig die „bunte Runde“ (Dicht, S. 33) an. Sarahs und Steffis Ausweise werden dabei, wie die der anderen Weißen, nie kontrolliert. Erschreckend sind ebenso die ungewollten Zudringlichkeiten von alten Männern gegenüber 15-jährigen Mädchen. „In keinem anderen Alter laden diese Männer häufiger uneingeladen ihren sexuellen Frust an einem ab, wie als Teenagerin“ (Dicht, S. 31)

 

Die „Hittn“ Wiens

Neben dem Rumhängen und Entdecken der Stadt Wien gehört das Besorgen von Gras zu den wichtigsten Aktivitäten der Tagediebin und Flaneurin. Aber ohne persönliche Connection ist man auf die sogenannten „Hittn“ angewiesen. In den 2000er-Jahren waren diese unscheinbaren und winzigen Beisln noch fester Bestandteil der Wiener Subkultur. Das Prozedere stark überteuertes Gras zu kaufen, war in jeder „Hittn“ gleich. Egal, ob sie Black Appache oder Cheers hieß. Eistee Pfirsich bestellen und dann warten, manchmal sogar bis zu fünf Stunden. Durch ein Hinterzimmer taucht dann ein Dealer auf und tauscht Grünes gegen Grünes.

„Hittn“ gab es in Wien so einige, doch so schnell wie sie aufgetaucht waren, so schnell waren sie auch schon wieder verschwunden. Einzig allein die alteingesessene Institution Café Gipsy Baron am Nussdorfergürtel hielt sich über 20 Jahre. Die junge Ich-Erzählerin vermutet einen Deal mit der Polizei. Mittlerweile gibt es auch diese „Hittn“ nicht mehr.

 

Café Stadtbahn

Das alternative Traditionslokal Café Stadtbahn hebt sich von dem strikt bürgerlichen Bezirk Währing, indem es sich befindet, stark ab. Das Café wird durch die zunehmende Kälte im Türkenschanzpark zum neuen Rückzugsort der Freund*innen. Das schummrige und rauchverhangene Beisl beherbergt all die Sonderlinge Währings. Die 60-jährige Besitzerin Waltraut akzeptiert, dass die beiden über Stunden hinweg – aus Ermangelung an finanziellen Mitteln – an einem Sodawasser für einen Euro sitzen und ihre eigene Musik mitnehmen. Mit ihrer strengen, aber gleichzeitig sanftmütigen Art ist Waltraut zweifelsohne ein Wiener Original.

 

Joe´s

Eine neue Kneipe in einer Seitengasse der Währingerstraße eröffnet. Das Joe´s liegt in Schulnähe der Runde, sperrt bereits in den Morgenstunden auf und entwickelt sich zum neuen Stammlokal der Jugendlichen. An der Bar vertreiben sich die „Bezirksalkoholiker*innen“ ihre Zeit, streng überwacht vom starken Alex, dem Wirten. Stolz präsentiert er im Unterhemd seine behaarte Brust und das Goldkettchen um den Hals. Die jungen Währinger*innen beziehen den Keller des Lokals, auf Ledercouches wird diskutiert, politisiert und gekifft.

Eines Abends torkelt jener schräge Typ auf die junge Gruppe zu, der der Grund für den Roman „Dicht“ werden sollte: „Der Aids Michl“. Sarah und Steffi sind sofort fasziniert von den unterhaltsamen Witzen, seinem eigentümlichen Charme und seinen kreativen Wortneuschöpfungen. Eine zufällige Bekanntschaft führt zu einer tiefen Verbundenheit und langjährigen Freundschaft. Eine neue Ära bricht an und schon bald besuchen Sargnagel und ihre Freund*innen den polarisierenden Michi täglich. In der kleinen Erdgeschoss-Wohnung gehen die schrillsten und schillerndsten Figuren ein und aus. Hier soll Sargnagel noch mehr über das Leben lernen, als in der Schule.

 

Flex

Angetrieben von einem Faible für Sonderlinge und dem Interesse an „hinigen Typen“ wird in den Abendstunden das Flex am Donaukanal aufgesucht. Ein Club, in dem sich bis heute, diverse Subkulturen Wiens treffen. Doro, Irmi und die junge Ich-Erzählerin sitzen vor dem Club und kommen mit schrägen Vögeln wie, „Rossino,“ einem „Kokser-Stereotyp aus den 80ern“ (Dicht, S.93) ins Gespräch. Mit dem „Maulwurf“ sind Unterhaltungen schon schwieriger, schweigsam wühlt er sich als Einzelgänger durch das Stadtleben und schnorrt ab und an Gras bei der Runde. Da er sich, bis auf seine Vorliebe für die getragenen Sportschuhe der Mädchen, ordentlich verhält, wird er toleriert.

Michi inspiriert die junge Steffi auch zu einem lukrativen Job. Beinahe konkurrenzlos verkauft die junge Ich-Erzählerin eisgekühltes Dosenbier aus ihrem Rucksack vor dem Club Flex. Vielleicht hat sogar die eine oder der andere von euch in den 2000er-Jahren die „Hüsn“ bei Sargnagel erworben?

 

Der Roman nimmt die Leser*innen mit auf eine Reise durch ein etwas abgefucktes Wien. Wo andere wegschauen, schaut und hört die junge Ich-Erzählerin noch genauer hin. Zum Beispiel beim „blonden Herbert“, der sich eine Packung Milch über den Kopf leert und sich belustig „Kälbchen“ nennt, oder bei Gino, der sich nach zu viel Absinth in einen Wolf verwandelt und über Michi herfällt. Oder auch beim „schwarzen Herbert“, der mit seinem Trolley durch Wien zieht und auf seinen Entdeckungsreisen die sonderbarsten Dinge findet, nur Kaffee darf er keinen trinken, dann passieren ihm noch sonderbarere Dinge. Oder bei dem ständig betrunken „König vom Sudan“, den man auch heute noch auf den Wiener Straßen antreffen kann.

Der alltägliche Wahnsinn Wiens und die bestechend scharfen Beobachtungen machen das Buch zu einer spannenden Lektüre für alle Wiener*innen und alle, die Wien besser kennen lernen wollen.

 

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