Aufgepasst! Für all diejenigen unter euch, die neben dem Studium noch Platz für andere Gedanken in ihrem Kopf haben, haben wir einen Vorschlag: Wie wäre es, sich mal Gedanken über das Konstrukt der Versammlung zu machen.

 

What the…? Über was soll ich nachdenken?!

 

Richtig gelesen: über das Versammeln.

Wir versammeln uns zum Kaffeeklatsch in den Wiener Kaffeehäusern, zum Lernen in Hörsälen oder zum Demonstrieren auf der Straße. Nach all den Lockdowns ist uns wohl allen klar geworden, wie wichtig uns das Versammeln wirklich ist und wie viel uns fehlt, wenn wir es nicht mehr tun können. 

Mal von Partys als Versammlung abgesehen: Versammlungen sind nicht nur für unser individuelles Wohlbefinden wichtig, sondern spielen auch in politischer Hinsicht eine riesige Rolle und genau diese Rolle wird derzeit im brut „gespielt“.

Wenn ihr euch also immer noch unsicher seid, über (what the…?!) ihr nachdenken sollt, dann helfen euch die Diskussionen im brut auf die Sprünge:

Kurator Florian Malzacher diskutiert seit bald einem Jahr regelmäßig in „Gesellschaftsspiele: The Art of Assembly“ über die Kunst der Versammlung, über ihre Möglichkeiten, Chancen und auch Grenzen. Das brut ist dabei der optimale Ort zum Experimentieren und verschiedene Versammlungsformen zu erproben. Gestartet hat das Projekt den Versammlungen ohne Versammlung: nämlich über Online-Diskussionen. Es wird immer skurriler?  Vermutlich, aber am 20. November versammelt man sich im brut tatsächlich.

Was ihr dort erwarten könnt und Gedankenanstöße unsererseits findet ihr in diesem Interview, das wir mit Florian Malzacher führen durften.

 

Es ist wieder mal an der Zeit, sich Gedanken zu machen! Seid ihr bereit? 

goodnight.at: Seit Jänner moderieren und diskutieren Sie mit wechselnden Gästen über das Konstrukt der Versammlung. Können Sie für unsere jungen Leser*innen kurz zusammenfassen, um was es bei „Gesellschaftsspiele: The Art of Assembly“ geht und welche Ziele mit den Diskussionen verfolgt werden?

Malzacher: Ausgangspunkt sind die vielen weltweiten sozialen und politischen Bewegungen der letzten zehn, elf Jahre – also angefangen mit den Revolutionen in Tunesien und Ägypten, den Massenprotesten in Spanien, Portugal, Griechenland – dann Occupy Wall Street, die Gezi-Park-Proteste in Istanbul, und, und und… Fast bei allen diesen Bewegungen waren Versammlungen – assemblies – zentral: Um zu diskutieren, sich abzustimmen, Strategien und Ziele zu formulieren… Aber diese Versammlungen waren nicht nur ein Mittel zum Zweck. Die Arten und Weisen, wie sie stattfanden – wer redete, wie geredet, wie sich geeinigt oder gestritten wurde – war ja bereits selbst ein Experiment damit, wie radikale Demokratie aussehen könnte oder sollte. Das interessiert mich sehr: Wie können solche Versammlungen tatsächlich Möglichkeitsräume erweitern?

Genau diese Frage hat in den letzten Jahren auch viele Theatermacher*innen und Künstler*innen inspiriert, die dann mit ihren Mitteln Versammlungen veranstaltet haben oder künstlerisch über dieses Format nachgedacht haben. 

Aktion "Take The Square New York" von Oliver Ressler © Oliver Ressler

 

goodnight: Hat Ihrer Meinung nach das Theater tatsächlich das Potenzial, gesellschaftliche Missstände zu verbessern in Anbetracht dessen, dass das Theater keinesfalls von allen Mitgliedern einer Gesellschaft besucht wird? 

Malzacher: Sicher muss sich auch das Theater (aber auch die anderen Künste und beispielsweise die Universitäten!) viel stärker öffnen. Für ein Theater, das sich mit Versammlungen beschäftigt oder sich selbst als Versammlung begreift, sind das natürlich zentrale Fragen: Woran liegt es, dass viele sich nicht angesprochen fühlen? Welche Themen braucht es, aber auch welche Zugangs- und Mitsprachemöglichkeiten? Unabhängig davon kann das Theater nur seinen spezifischen Beitrag zu gesellschaftlicher Veränderung leisten – eben zum Beispiel indem es gemeinsam mit dem Publikum Formen des Zusammenseins imaginiert und ausprobiert.

 

goodnight: Unsere Leser*innen sind hauptsächlich Student*innen, die vor der Pandemie daran gewohnt waren, sich im Hörsaal, in der Mensa oder bei Partys zu versammeln. Nun versammelt man sich bei Zoom. Welche Konsequenzen ergeben sich durch diesen anderen Versammlungsort für die berufliche und private Entwicklung der Studierenden einerseits und der Universität als Versammlungsort andererseits?

Malzacher: Nur digital stattzufinden war natürlich auch für uns erstmal eine Enttäuschung – und auch etwas paradox: Da redet man die ganze Zeit über das Versammeln, aber jede/r hockt bei sich zuhause vor dem Bildschirm… aber vielleicht war dieser Mangel ja auch ganz produktiv. Jedenfalls hat er ermöglicht, dass unsere Zuschauer*innen und Zuhörer*innen nun wirklich aus aller Welt kommen. Und das gilt ja auch für Seminare: Als Gastprofessor an der Uni Gießen hatte ich in meinem, zwangsweise nur online stattfindenden Seminar plötzlich Teilnehmer*innen aus der Ukraine, aus Iran, aus Argentinien… Dazu kommt natürlich der Umweltaspekt. Ohne den hohen Energieverbrauch jeder Zoom-Sitzung zu leugnen, ist es doch gut, dass nicht jeder für jeden Vortrag nun um die halbe Welt fliegen muss. Und dennoch: Es ist wichtig, sich auch physisch zu begegnen – wir müssen neu austarieren, wie analoge und digitale Versammlungen sinnvoll miteinander verschränkt werden sollen.

 

goodnight: Was würde denn passieren, wenn wir uns nicht mehr versammeln? Brauchen wir Versammlungen oder geht es auch ohne?

Malzacher: Als jemand, der aus dem Theater kommt, bin ich natürlich davon überzeugt, dass wir uns auch physisch versammeln müssen. Es ist eine andere Begegnung, eine andere Atmosphäre. Wir kommunizieren ja nicht nur verbal. Die Philosophin Judith Butler, die auch schon bei Art of Assembly war, hat das in einer berühmten Rede bei Occupy Wall Street sehr schön formuliert:

„Es ist wichtig, dass wir als Körper – als die körperlichen Wesen, die wir sind – zusammen in der Öffentlichkeit auftreten, dass wir uns in der Öffentlichkeit versammeln. Wir kommen zusammen auf den Straßen und Plätzen als eine Allianz der Körper. Als Körper leiden wir, benötigen wir Nahrung und ein Dach über dem Kopf; und als Körper sind wir aufeinander angewiesen und begehren einander. Das ist das, was hier passiert, eine Politik des öffentlichen Körpers, der Bedürfnisse des Körpers, seiner Bewegungen und seiner Stimme.“

 

goodnight: Mit dem Begriff des politischen Theaters kommt einem sofort Bertold Brecht und sein episches Theater in den Sinn. Inwieweit stimmen Sie Brechts Ansatz bezüglich der Form eines Theaters zu?

Malzacher: Für mich ist Brecht tatsächlich eine wichtige Referenz – vor allem sein Konzept des Verfremdungseffekts. Das bedeutet ja erstmal nur: Wir sollen nie vergessen, dass das, was wir im Theater sehen, eine Aufführung ist. Das heißt aber, glaube ich, nicht, dass es nur eine Aufführung ist: Es ist eben immer auch real. Das ist auch das besondere an Versammlungen im Theater: Sie sind fiktional – und sie sind wirklich zugleich. Wir schauen zu – und sind zugleich Teil davon. D.h. wir können uns nicht rausziehen, aber dennoch gleichzeitig reflektieren, was da passiert, welche Hierarchien gelten, wer repräsentiert ist, wer nicht etc.

Diese paradoxe Situation macht das Potential des Theaters aus, vor allem des politischen Teils des Theaters. So würde ich Brecht verstehen – und auch nutzen.

 

 Eine Reihe von Florian Malzacher & brut Wien © Inés Bacher / Wiener Festwochen

 

goodnight: Sie weisen darauf hin, dass die sozialen Bewegungen der letzten Jahre immer wieder auf der Suche nach alternativen Formen des Versammelns waren. Hört dieses Suchen jemals auf? Soll es das überhaupt, ist schließlich der Stillstand jenes Konstrukt, das dem Fortschritt im Wege steht und keinesfalls in einer Demokratie passieren sollte?

Malzacher: Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir jemals eine Lösung haben werden. Es gibt ja nicht nur eine Antwort darauf, wie Demokratie aussehen soll. Das ist, was die Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe bei ihrem Beitrag für Art of Assembly betont hat: wir müssen immer darum ringen – und durchaus auch heftig streiten! Der Philosoph Jacques Derrida hat davon gesprochen, dass Demokratie immer im Kommen, immer im Entstehen ist. Sie ist nie einfach da. Sie bliebt unsere Aufgabe.

 

goodnight: Am 20. November findet die Diskussion nicht nur im Online Livestream statt, sondern auch im brut in Wien. Welchen Einfluss hat die physische Präsenz der Diskutierenden und Zuhörenden auf die Diskussion?

Malzacher: Als Theatermensch glaube ich natürlich, dass das physische Zusammenkommen eine große Rolle spielt – und sei es nur durch die Energie, die entsteht - das hat natürlich auch damit zu tun, dass man anders vor einem Live-Publikum „performt“. Aber man hört auch als Publikum anders zu – und ist sensibler für die Umgebung, dafür wie die anderen sich verhalten etc.

 

goodnight: Thema der Diskussion am 20. November ist Hospitality – die Gastfreundschaft. Mit dem Begriff der Gastfreundschaft kommt mir sofort Derrida in den Sinn. So formuliert er die These: „Wir wissen nicht, was Gastfreundschaft ist.“ Würden Sie dem zustimmen?

Malzacher: Derrida ist ja gern nicht eindeutig – in diesem Sinne würde ich sagen: Wir wissen nicht was Gastfreundschaft ist und wir wissen es gleichzeitig sehr gut – das ist das Spannungsfeld, in dem wir auf das Fremde reagieren.

 

goodnight: Etymologisch fällt auf, dass in der Struktur „Hospitalität“ etwas „Hositilität“ zu stecken scheint. Hospes (lat. Gast) und hostis (lat. Feind) scheinen ineinander verflochten zu sein. Inwieweit ist dies in der Politik beobachtbar?

Malzacher: Das beschreibt den Umgang mit dem Fremden doch sehr gut: Begegnet man ihm als Gast – oder als Feind*in? Zwischen diesen Polen bewegt sich ja die gesamte Diskussion um Grenzen, Asyl, Migration… man muss nur an den Sommer 2015 in Deutschland denken den unzähligen Menschen, die gute Gastgeber sein wollten – und den gleichzeitigen rassistischen Angriffen. Die Auseinandersetzungen damals – auch in den Feuilletons – illustrieren das sehr gut.

Die türkische Architektin Merve Bedir, die unser Gast sein wird, hat sich mit dieser Ambivalenz viel auseinandergesetzt. Sie erforscht Infrastrukturen von Gastfreundschaft und Mobilität sowie die Überreste von Solidarität im urbanen und öffentlichen Raum. Und auch die Wissenschaftlerin Marina Otero Verzier interessiert sich für die politischen und sozialen Konsequenzen von architektonischen Räumen – werden die Begegnungen von Körpern erleichtert oder aber verhindert? Und für die Architekt*innen von raumlabor Berlin – die Gerade den Goldenen Löwen in Venedig bekommen haben - ist Architektur vor allem ein Werkzeug auf der Suche nach einer Stadt der Möglichkeiten. Ihr Zugang ist oft sehr spielerisch, experimentell und auch lustvoll.

 Kuratiert von Anne Faucheret, Veronica Kaup-Hasler, Kira Kirsch & Florian Malzacher, steirischer herbst, 2012 © Wolfgang Silveri / steirischer herbst

 

goodnight: Worauf kann man sich bezüglich der Veranstaltungsreihe in Zukunft noch freuen?

Malzacher: Ich denke, es gibt noch viele spannende Themen, über die sich zu reden lohnt: Im Dezember haben wir im brut die Wissenschaftlerin und Theatermacherin Frédérique Aït-Touati zu Gast, die eng mit Bruno Latour zusammenarbeitet, und die Theatergruppe andcompany&Co. – da geht es um Versammlungen von Dingen, Tieren, Menschen… und im Januar treffen wir den Theaterregisseur Milo Rau und die Aktivist*innen Isabelle Fremeaux und Jay Jordan in Gent. Im April sind wir wieder in Wien und wollen wir auf die beeindruckenden politische Grasswurzel-Bewegung Možemo! schauen, die in Zagreb gerade die Bürgermeisterwahlen gewonnen hat. Wie schafft man, dass so ein politischer Erfolg dauerhaft bleibt – und nicht gleich wieder alles zusammenfällt?

 

Vielen Dank an Florian Malzacher für die Beantwortung der Fragen, wenn ihr jetzt noch Fragen habt, ist das gut und nur wieder ein Grund mehr, das brut zu besuchen und selbst mitzudenken! 

 

Der Eintritt für die Veranstaltung ist frei, aber du musst dich dafür anmelden. Alles Infos findest du HIER!

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