Mein erster durchschlagender Beziehungsmoment zu Wien erfolgte oral: Ich hatte mir den Gaumen so arg am nächtlichen Käsekrainer verbrannt, dass ich nach einigen Tagen in die Apotheke schleichen und dem sehr verständnisvollen Mann hinter der Theke mein Leiden schildern musste. Er gab mir Tee, Creme und die Zuversicht, dass ein schmerzbefreites Leben umständlich, aber möglich ist. 

In der oralen Phase, die laut Freud das erste Jahr der psychischen Entwicklung eines Menschen prägt, wird die Umwelt durch den Mund entdeckt: Dabei stehen sich orale Befriedigung und Frustration unglaublich nah. 

Es ist mein erstes Jahr in Wien, seit neun Monaten erkunde ich nun die Geburtsstadt der Psychoanalyse, mit dem Mund als primäres Bezugsorgan (Gulasch! Spritzer! Sturm!) und frage mich, wie ich das Wesen dieser Stadt in Worte fassen soll. 

 

Wien misst sich

Vom internationalen Beratungsunternehmen Mercer ist Wien dieses Jahr zum zehnten Mal in Folge zur lebenswertesten Stadt der Welt gewählt worden. 39 Kriterien dienen Mercer dabei als Gradmesser für die Lebensqualität in internationalen Städten, so zum Beispiel das Gesundheitssystem, die Infrastruktur, bezahlbarer Wohnraum oder das Kultur- und Freizeitangebot.  

Doch wie vermisst man eine Stadt für den Einzelnen? Auf der Liste verteidigt auch München seit langer Zeit eisern seinen dritten Platz – die Stadt, aus der ich komme, und in die ich nur unter elterlichem oder bürokratischem Zwang zurückkehre. Düsseldorf und Frankfurt sind ebenfalls unter den Spitzenreitern und machen mir, wie wahrscheinlich den meisten Millenials mit bohemianischen Ambitionen, nur bedingt feuchte Träume. Dass Wien in der medizinischen Erstversorgung überzeugt, wurde mir ja bereits demonstriert. Aber, so elementar sie sind, regelmäßige Müllentsorgung und das Abwassersystem gehören letztlich nicht zu den Kriterien, die entscheiden, ob ich mich in eine Stadt verliebe oder nicht. Stattdessen erscheint Wien dadurch eher wie der nervige Streber, der überall seine Haken setzt und sonst aber etwas zu glattgebügelt ist:

Eltern freuen sich, wenn man jemanden wie Wien heimbringt. 

Zur Mercer-Studie sei auch gesagt: Das Ranking basiert zwar sowohl auf objektiven Daten, als auch auf Erfahrungsberichten von Expats, dient aber in erster Linie dazu, internationalen Firmen Entscheidungshilfe zu geben, in welche Stadt sie ihre Mitarbeiter aussenden. Es gelten also nicht nur ganz andere finanzielle Ausgangsbedingungen, auch die Anforderungen an die Stadt unterscheiden sich stark von denen, die man als Student oder Kreativer auf der Suche nach dem billigsten Spritzer und sich selbst mitbringt. Kurz gesagt: Für den Manager aus Shanghai mag Wien die lebenswerteste Stadt der Welt sein, für den FPÖ-Wähler aus Simmering weniger. Und für uns? 

 

Wien gefühlt

Ich hatte das Glück, bereits in wunderschönen, aufregenden Städten zu leben: Nach München, Paris und Barcelona jetzt also Wien. Sie alle sind kosmopolitisch, architektonisch meisterhaft und teuer. Sie alle haben genug Platz für ein ganzes Leben.

Aber was macht Wien besonders, wie kann man sein Wesen fassen? 

Die Stadtpsychologin Cornelia Ehmayer hat genau das versucht: In ihrem Bericht „Das Wesen von Wien“ schildert sie die Ergebnisse eines 2003 durchgeführten Forschungsprojektes, in dem sie versuchte, mithilfe von 117 befragten Personen das „Typisch Wienerische“ herauszuarbeiten. Der uneindeutige Befund: Wien lebt von Widersprüchen. Ist irgendwas zwischen Provinz und Metropole. Einerseits konservativ und todumwoben, andererseits kosmopolitisch, kreativ und voller Tatkraft.

Und der Wiener? Immer am Sudern, aber trotzdem irgendwie sympathisch und offen. 

In Wien läuft die Zeit langsamer. Neulich am Würstelstand, dem Epizentrum österreichischer Kulturpflege, wurde das besonders schön deutlich: Es ist das Jahr 2019. Die Welt diskutiert über Moral und brennende Wälder – und was sagt Wien? „Jetzt wieder: Käsekrainer aus Pferdefleisch!“ Manchmal denke ich: Das ist der Kohlenstoff, aus dem Albträume gemacht sind. Dann wieder: Regionales Pferdefleisch ist wahrscheinlich besser als aus Südamerika importierte Sojabohnen für die Buddha Bowl. Und außerdem: Dem Wiener ist das eh wurscht. Der Wiener sitzt hinten im Eck im Café Bendl, raucht Kette, hat sechs leere Achterl vor sich stehen und immer einen Schmäh parat, und ist dabei irgendwie ein besserer Mensch als die ganzen Leute, für die Umweltschutz und Nächstenliebe nur ein weiterer Trend sind wie Schlaghosen oder VSCO-Filter. 

 

Keine Kompromisse

Ich glaube, für mich liegt das Geheimnis Wiens letztlich darin, dass es die Schnittmenge anderer Städte ist, ohne dabei wie ein Kompromiss zu wirken: Wien vibriert wie Paris, ist aber weniger arrogant und anonym. Wien hat kontinentales Klima und im Schanigarten die südliche Freiheit Barcelonas, verzichtet aber auf dessen posierte Weltläufigkeit. Wien gibt ein Gefühl von Sicherheit, ohne dabei sedierend zu wirken wie München. 

Nach der oralen tritt man übrigens laut Freud in die anale Phase ein: Nach dem ersten arglosen Entdecken durch den Mund lernt man im zweiten und dritten Jahr der psychischen Entwicklung, durch bewusstes Zurückhalten der Ausscheidungsprodukte den eigenen Körper und die Umwelt zu kontrollieren. Und das gilt nicht nur für die apfelförmigen Souvenirs der Fiaker, sondern auch für jede andere lebensbedingte Scheiße (Trennung, Verlust, Krankheit, Exmatrikulation): Wien ist eine Stadt, an der man sich aufreiben kann – Freud und Leid liegen hier nah beieinander. Hoffnung und Wut, Erfolg und Enttäuschung, Würstel und Schmerz. Für mich ist das lebenswert.  

 

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